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In Sao Paulo geht die Sonne unter

Roman

Erschienen am 20.07.2009
19,95 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783630872803
Sprache: Deutsch
Umfang: 205 S.
Format (T/L/B): 2.3 x 22 x 14 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Er sucht nach der Wahrheit und findet – Rätsel, Lügen, Geheimnisse Einwanderer nehmen ihre Geschichten mit. So auch Setsuko, die alte, japanische Besitzerin eines Restaurants in São Paulo. Ihre Geschichte handelt von Liebe und Verrat, von Intrigen und vom Krieg und schlägt den Mann, dem sie sie zu erzählen beginnt, vollkommen in ihren Bann. Doch plötzlich ist Setsuko verschwunden … Immer wieder besucht ein arbeitsloser Werbetexter ein japanisches Restaurant in seiner Heimatstadt São Paulo. Eines späten, melancholischen Abends fragt ihn Setsuko, die alte Wirtin, ob er Schriftsteller sei. Sie habe eine Geschichte zu erzählen, die nicht der Vergessenheit anheimfallen dürfe. Damit beginnt eine schwindelerregende Reise in die Vergangenheit, in eine tragische Liebesdreiecksgeschichte zwischen einem Mädchen aus gutem Hause, dem Sohn einer wohlhabenden Industriellenfamilie und einem zwielichtigen Schauspieler, die in Japan während des Zweiten Weltkriegs ihren Anfang nahm und fortwirkt bis ins Brasilien unserer Tage. Doch noch bevor sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hat, ist Setsuko eines Tages spurlos verschwunden. Der Werbetexter, der selbst von japanischen Einwanderern abstammt und ihre Geschichte begierig aufgesogen hat, ist verstört. Er muss die ganze Wahrheit herausfinden. Und so begibt er sich mit seinem letzten Geld auf Spurensuche nach Japan, wo er auf ungeahnte neue Hindernisse und Verwicklungen stößt.

Leseprobe

Ich sehe keinerlei Metapher in dem, was ich sage. Es ist, als läge alles im Halbdunkel. Es gab eine Zeit, da war ich Stammgast in einem obskuren Restaurant namens Seiyoken - das heute nicht mehr existiert - in einer berüchtigten Straße im Stadtteil Liberdade. Das Essen war gut, die Preise anständig und die Bedienung nett, untertrieben ausgedrückt, denn man hat uns nie rausgeworfen. Fast immer gab es Platz, und wie meine Kommilitonen kam ich gar nicht auf die Idee, dass der Lärm, den wir nach ein paar Gläsern Sake und Bier veranstalteten, die anderen Gäste stören könnte. Wir waren viel zu sehr von uns selbst eingenommen und zu verblendet, um nachzudenken, bevor wir die Stimme erhoben und Reden schwangen über Themen, die keinen Menschen interessierten, schon gar nicht die Kellner; die kümmerten sich nicht nur nicht um den Ton unserer Diskussionen oder, schlimmer noch, unserer Selbstbeweihräucherungen, sie nutzten vielmehr den Umstand, dass wir von unseren eigenen Worten benebelt waren, traten heraus aus dem Halbdunkel, das uns umgab und sich mit fortschreitender Stunde und Trunkenheit immer stärker verdichtete (nach und nach wurde, von uns unbemerkt, die Beleuchtung ausgeschaltet), und füllten unauffällig die leeren Gläser, was ihnen am Ende des Abends und unserer Sauferei ein größeres Trinkgeld sicherte. Ich erinnere mich an ein besonders turbulentes Abendessen, bei dem einer am Tisch rief, hätte es die Nazis nicht gegeben, dann hätte die Welt Kafkas Texte nicht verstanden und ihm keine Anerkennung gezollt. Oder als ein anderer das Beispiel William Blake - den Verfasser von Die Hochzeit von Himmel und Hölle, mit dem wir uns am Nachmittag im Seminar über englische Literatur beschäftigt hatten und der erst ein Jahrhundert nach seinem Tod Anerkennung gefunden hatte - zum Beleg für unsere Unverstandenen-Phantasie ernannte: "Wirklich erschreckend ist die Unfähigkeit, die Dinge in der Gegenwart zu sehen, zu beurteilen und ihnen gerecht zu werden." Eine schöne Phantasie. Wenn die Anerkennung sich niemals vom Werk her ergab, sondern aus den historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, unter denen das Werk entstanden war, dann war jede Kritik eine mehr oder weniger kurzsichtige Farce, in der das Werk entweder zur Illustration eines früheren Kontextes diente oder als Rechtfertigung von Geisteshaltungen, die durch ebendiese Gegebenheiten bedingt waren. Das nannte man dann den richtigen Ort und die richtige Zeit. Irritierend war der Gedanke, dass der Mensch nur das wahrnehmen könne, worauf er bereits eingestellt sei, dass die Zukunft immer eine Projektion der Vergangenheit sei. Und dass es kein Angebot ohne Nachfrage gebe, weder in der Literatur noch in der bildenden Kunst. Wir kamen gar nicht auf die Idee, dass wir womöglich keine Ausnahme von der Regel waren und bei unseren Diskussionen im Seiyoken auch nichts richtig wahrnahmen. Dass genau so, wie literarische Werke nicht von den Gegebenheiten, unter denen sie geschaffen wurden, getrennt gesehen werden, sich ihrer Gegenwart nicht entziehen können, auch wir dies nicht konnten. In seiner posthum unter dem Titel Borges professor veröffentlichten Vorlesungsreihe über englische Literatur sagt der argentinische Schriftsteller: "Für Blake ist das, was die Theologen gemeinhin die Hölle nennen, in Wirklichkeit der Himmel." Die Erinnerung an jene hitzigen Abendessen wird noch peinlicher, wenn man bedenkt, was aus uns geworden ist: das Gegenteil von dem, was wir uns vorgenommen hatten. Erst zehn Jahre nach einem solchen Abend, an dem sich die Diskussion um meine erbärmliche Ambition drehte, Schriftsteller zu werden (was mich noch heute arg in Verlegenheit bringen würde, wenn ich durch einen unglücklichen Zufall einem der damaligen Studienfreunde begegnete und er feststellen könnte, was aus mir geworden ist, obwohl ich weiß, dass es ihnen allen auch nicht viel besser ergangen ist), nahm ich zum ersten Mal die Besitzerin des Restaurants wahr. Seit zehn Jahren hatte ich mich dort nicht blick Leseprobe