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Wahl der Waffen

Roman

Erschienen am 03.03.2008
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442738168
Sprache: Deutsch
Umfang: 176 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 18.6 x 11.9 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Wie eine junge Frau zur Terroristin wird Die Journalistin Katia entdeckt auf einem Fahndungsplakat das Foto ihres ehemaligen Kindermädchens. Sie verfolgt die Spur dieser Frau: Jette hat sich Mitte der sechziger Jahre aus der Kleinstadt nach Tübingen davongemacht, später nach Berlin. 1967/68 gerät sie über Liebschaften in den Untergrund, als Bankräuberin steigt sie Anfang der Siebziger zur meistgesuchten Frau Deutschlands auf. Katia will verstehen, warum sich Jette für die Gewalt, den Untergrund, die Angst entschieden hat, will herausfinden, was damals wirklich geschah

Autorenportrait

Judith Kuckart, geboren 1959 in Schwelm/Westfalen, absolvierte eine Tanzausbildung an der Folkwang-Schule in Essen und studierte Literatur- und Theaterwissenschaften in Köln und Berlin. 1986 gründete sie das Tanztheater Skoronel in Berlin, mit dem sie bis 1998 an verschiedenen deutschen und internationalen Bühnen Stücke aufführte, an denen sie als Autorin, Tänzerin, Choreografin und Regisseurin mitwirkte. Für ihr Werk wurde Judith Kuckart vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis 2012, dem Margarete-Schrader-Preis für Literatur der Universität Paderborn 2006 und dem Deutscher Kritikerpreis 2004. Ihr Roman "Wünsche" stand 2013 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

Leseprobe

13. März 1990 Habe dich lange nicht gesehen, könnte sie sagen. Wie groß und dumm du geworden bist. Dreimal wirst du mich nicht verleugnen. Sie läse den Satz von ihren Lippen ab. Kein Sterbenswort. Breitbeinig steht sie da, läßt nicht nach in den Knien, die leicht nach innen sich drehen, bückt sich nicht mehr, um Krusten zu knibbeln, ungeduldig. Heraus aus dem Alter, gestürzt, geschunden, das Weinen verdrückt und ein verrotztes Taschentuch um die Blutspur gebunden. Vorbei. Sie, sie ist sentimental geworden. Die andere ist sicher geblieben, hat den Kopf gewendet, den Luftpostbrief bezahlt. Sie hat sich gemüht, die Anschrift zu entziffern. Vergeblich. Die andere ist gegangen. Sie ist in der Schlange stehengeblieben, hat ihr nachgeschaut. Der Aushang neben dem Schalter, er hängt im Bahnhof, im Wiegehäuschen am Ortsausgang, neben der Eingangstür im Standesamt, beim Metzger auf der Hauptstraße. Unveränderliche Merkmale. Sie hat gelächelt. Die Frau am Schalter mit der Hasenscharte hat gefragt, ob das alles sei. Ob sie eine Quittung brauche? Sie hat versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Auch nicht, daß sie die Hasenscharte sehr wohl bemerkt. Davor und danach sind zehn Jahre gekommen und gegangen, gab es Zeugen und keinen, dem etwas auffiel. Paris gefällt Katia nicht mehr. Jeden Morgen muß sie weiter laufen als andere, um ihre Zeitung zu bekommen. - Der Zug wird mit zwanzig Minuten Verspätung eingesetzt, entschuldigt sich die heisere Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Der Bahnsteig füllt sich mehr und mehr, als habe sie etwas versprochen, eine Reise zur Nacht, im Orientexpress, mit ihr, der Unbekannten. Was habe ich im Leben der anderen zu suchen, in das ich nicht hereingebeten wurde? Katia holt aus. Erzählen: Wirklichkeiten hersagen. Was war wahr? Dies ist die Geschichte einer Frau, die schreibt, und die einer Frau, die fast erfunden, nachträglich. "Ich" bleibt ein unanständiges Wort. Katia holt aus. Der Bahnsteig ist eine böse Nachricht lang. Sieben Mal. "Im Libanon ums Leben gekommen". Das könnte ebenso eine Nummer sein, die nicht aus dem Kopf geht, Telefonnummer eines kleinen Ortes, die sie hersagt, weil sie zum Schreiben nichts zur Hand hat. Zwischen den Wörtern im Rhythmus der Schritte taucht ein Waldweg auf, farnverwachsen, eine Turnhalle, Schweißgeruch auf Gummimatten, Geistergärten voll wilden Rhabarbers im Spätsommer. Bilder kommen sich in die Quere, schlagen übereinander, werden beiseite gedrängt von denen, die lauter schreien, schärfer riechen, und doch untergehen. Schriftzüge: "L" schreibt sich mit dem gleichen Schwung wie - Libanon. Katia ist begabt und wird trotzdem Journalistin. Mit einem Stipendium im Rücken arbeitet sie bei Radio France. An manchen Tagen bleibt sie in der Wohnung, nah dem Bett, fährt nach dem Frühstück mit dem Finger Namen im Telephonbuch ab, hält inne bei denen, die den Kreis für Anrufbeantworter haben, wählt, schneidet mit, legt auf. Sie will aus dem Material etwas machen, wie sie aus allem etwas machen will. Katia hat die Story gesucht. Sie ist eine gründliche und eine träge Person. Als sie am Gare du Nord die Fahrkarte nach Berlin, einfach, löst, weiß sie, sie wird zu spät kommen. Zu spät kommen heißt, den anderen nicht mehr lebend antreffen? Jette, du hast keine Brust. Mit der Behauptung hoffte sie, Jette würde das Gegenteil beweisen wollen. Jette, du bist eine Hexe, du hast einen braunen Fleck auf der Lippe. Jette nannte sie sie. Jette, wie man einem Spielzeug den Namen gibt, der nach rotem Holz klingt. An diesem Nachmittag hatten sie sich angemalt, die Brust ausgestopft und Verliebte gespielt. Jette war achtzehn, und das Kind, das sie hüten sollte, hüfthoch, kaum größer, auch auf Spitze nicht. Was ist das, ein Sterbenswort, wer stirbt da? Der, der spricht? Sag, was ist das eine Geheimhaltung? Eine geheime Haltung, ist das gebückt stehen vor oder hinter einem Geheimnis? Einem verwunschenen Schloß, einem Raub? Sei still, sagte Jette. Sie wollte sich selbs Leseprobe